h1, h2, h3, h4, blockquote {font-family: 'Times New Roman';} Chronische Schmerzen und muskulo-skelettale Dysfunktion
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Einführung

Chronische Schmerzen, obwohl man sie unter Naturvölkern nur relativ selten antrifft, stellen sie für so viele Menschen in der modernen westlichen Welt einen lebensbestimmenden Faktor dar, dass eigene Schmerzkliniken entstanden sind und die Schmerztherapie immer mehr Beachtung findet. Was für die Pharmaindustrie ein Segen in Form von steigenden Umsätzen mit Analgetika ist, beeinträchtigt auch die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit mehr und mehr. Schon vor 20 Jahren kam eine von einem großen Versicherungskonzern in Auftrag gegebene Studie zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass in den USA 156,9 Millionen Arbeitstage pro Jahr alleine den Kopfschmerzen zum Opfer fallen – Tendenz steigend.

Die Forschung wird hier in etlichen Spitzen vorangetrieben, von denen sich viele mit biochemischen Schmerzmechanismen befassen, andere mit der Neurologie von Schmerzen, meist mit dem Ziel, zu neuen und effizienteren pharmakologischen Präparaten zu finden. Prinzipiell ist man sich einig darüber, dass, wo immer möglich, chronische Schmerzen nicht palliativ mit Medikamenten, sondern ursächlich behandelt werden sollten. Solange sie auf lokale organische Defizite zurückzuführen sind und der Schmerz dort auftritt, wo auch die Ursache dafür liegt, ist dies noch relativ leicht machbar. Sobald chronische Schmerzsyndrome jedoch Fachgrenzen überschreiten, werden sie schnell zu einer Herausforderung, der unser modernes, in hoch spezialisierte Sparten gegliedertes Medizinsystem kaum gewachsen ist.

Ein typisches Beispiel dafür sind Schmerzen und Beschwerden, welche oft mit der CMD, der Cranio-Mandibulären Dysfunktion, einhergehen. Die Cranio-Mandibuläre Orthopädie beschäftigt sich mit der Erforschung der Ätiologie, der Diagnose und der Therapie von chronischen Schmerzen und Leiden, welche aus Körperfehlhaltung, Fehlbißstellung und chronischer muskulärer Hyperaktivität hervorgehen.


Definition

Die Cranio-Mandibuläre Orthopädie ist die Wissenschaft, die sich mit der Okklusion der Zähne als einem wichtigen Input in das Wechselspiel zwischen muskuloskelettaler Akkommodation, chronischer muskulärer Hyperaktivität und chronischen Schmerzen beschäftigt.


Grundlagen

Bei der Verbreitung und Behandlung von cranio-mandibulären Funktionsstörungen zeichnet sich schon seit über 30 Jahren keinerlei Durchbruch ab. Zwar haben sich die Methoden, z. B. zur Vermessung von Verschiebewinkeln der sogenannten „Scharnierachse“, oder zur Bildgebung in diesem Zeitraum außerordentlich verfeinert, und es gibt heute auf dem deutschen Markt eine größere Vielzahl von gnathologischen Geräten als irgendwo sonst auf der Welt, jedoch hat sich im gleichen Zeitraum die Verbreitung von eben solchen Funktionsstörungen drastisch zugespitzt. Die CMD ist inzwischen so verbreitet, dass man heute als Zahnarzt davon betroffene Patienten nicht mehr meidet, sondern eher geneigt ist, gutes Geld an Google zu zahlen, um bei der Suche danach im Internet möglichst weit oben unter den Resultaten gelistet zu werden. Zwar werden ständig neue Konzepte und Geräte zu ihrer Behandlung beworben, aber in der Regel handelt es sich dabei um wenig mehr, als um die Neuauflage von bereits Dagewesenem.

Ein Ausspruch Einsteins wird besonders gerne zitiert:

Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.

Könnte dieser Satz vielleicht auch auf die CMD anwendbar sein?

Denkweisen, Gedankenschulen oder Dogmen, wie immer man sie benennen möchte, folgen in der Regel den Gesetzen der Logik: Zuerst einigt man über Prämissen, die man in der Folge dann nicht mehr infrage stellt, sondern man baut weitere Gedanken darauf auf und achtet darauf, dass sich keine Widersprüche ergeben, weder zwischen diesen Gedanken, noch zu den Prämissen.

Ein Problem, das wir heute in der Zahnmedizin haben, ist, dass man längst vergessen hat, welche Prämissen dem gnathologischen Dogma eigentlich zugrunde liegen. Wie man beim Urheber der Gnathologie, Beverly McCollum und seinem Nachfolger, Charles Stuart, problemlos nachlesen kann, waren unter den Prämissen der gnathologischen Lehre auch die folgenden:

  • Gelenke führen Bewegungen, Muskeln treiben diese lediglich an.
  • Alle Gelenke weisen eine Bewegungsachse auf, so auch die Kiefergelenke.
  • Kiefergelenke sind unveränderlich und bieten somit eine lebenslang gleichbleibende Referenz für die Kieferstellung.

Alle drei dieser Prämissen haben sich wissenschaftlich längst als unhaltbar erwiesen, wie auch etliche weitere, auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll.

  1. Die erste Prämisse ist bis heute verantwortlich dafür, dass man die CMD in der Regel als Erkrankung der Kiefergelenke versteht und sich daher der Fokus auf sie konzentriert. Wenn wir jedoch eine Fingerkuppe mit geschlossenen Augen zur Nasenspitze führen, so schaffen wir dies, egal, wie wir dabei Gelenke im Arm oder Finger stellen. Möglich ist dies durch das räumliche Vorstellungsvermögen von Bewegungen des Körpers oder seiner Gliedmaßen, sowie ein intuitives Wissen darum, wie Körperteile in Relation zueinander positioniert sind. Man nennt dies „Propriozeption“, oder gar eine weitere Sinneswahrnehmung, zusätzlich zu den bekannten 5 Sinnen.
  2. Praktisch kein gesunder Mensch bewegt seinen Unterkiefer bei aufrechter Körperhaltung um eine feste Achse. Das ist der Grund dafür, dass man ihm seinen Unterkiefer von außen verschieben muss, wenn man die Scharnierachse, wie sie in der Gnathologie genannt wird, bestimmen möchte. Ursprünglich wurde in der Gnathologie absent jeder Evidenz einfach postuliert, dass die Interkuspidation im Biss entlang der Kreisbahn der Bewegung um diese Scharnierachse angeordnet sein muss und die Bisslage entsprechend korrigiert werden sollte, wenn dies nicht so ist – was annähernd auf jeden Patienten zutraf. Dies führte dazu, dass es ab den 70er Jahren weithin üblich wurde, Patienten anlässlich einer kieferorthopädischen oder prothetischen Neueinstellung des Bisses den Unterkiefer manuell mehr oder weniger stark aus der gewachsenen Zuordnung zu verschieben.
  3. Mit der Beschreibung der Vorgänge bei der Diskusverlagerung in Kiefergelenken durch Farrar gegen Ende der 70er Jahre wurde die 3. Prämisse unhaltbar. Das von Mongini wenig später beschriebene Remodeling, also die zum Teil gravierende Veränderung der Form von Kiefergelenken, ließ diese Prämisse auch dann unhaltbar werden, wenn keine Diskusverlagerung vorlag. Diese Verformungen erfolgten in Abhängigkeit von Belastungsvektoren in den Kiefergelenken, sodass Remodeling gemeinsam mit Fehlbelastungen auftritt und manipulierte Positionen von Kiefergelenken daher keine gleich bleibende Referenz ergeben können.

Bei näherem Nachdenken kommt sogar die Sorge auf, dass die in der Gnathologie massenhaft durchgeführte Verschiebung von Unterkieferrelationen aus der gewachsenen Zuordnung am Ende womöglich Teil des CMD-Problems sein könnten, aber eher nicht Teil der Lösung! Dies wäre auch eine mögliche Erklärung dafür, warum es auch nach mehreren Dekaden der Suche noch immer nicht gelingen will, dieses Problem einer Lösung zuzuführen, sondern sich stattdessen CMD-Fälle häufen. 

Wie könnte also der von Einstein geforderte Umdenkprozess in diesem Zusammenhang aussehen? Man müsste mit ganz neuen Prämissen beginnen, denen jeder zustimmen kann, und darauf ein neues Gedankengebäude errichten. Eine erste solche Prämisse könnte sein:

Gesunde Muskeln kennzeichnet eine möglichst hohe Leistungsfähigkeit

EMG der Funktion

MM (Masseter) und TA (Temporalis) l+r: Gute, symmetrische Kontraktion im Biss. Vollbild durch Anklicken!




Erschöpfte Muskeln sind weniger leistungsfähig, als ausgeruhte. Daher ist es wenig überraschend, dass Muskeln, die gerade bei irgendwelchen Aktivitäten stark gefordert wurden, an Leistungsfähigkeit einbüßen. Jedoch ist es sicher kein Zeichen von Gesundheit, wenn Muskeln eine deutlich reduzierte Leistungsfähigkeit aufweisen, obwohl sie durch keinerlei erkennbare Aktivitäten erschöpft wurden. Diesen Zustand trifft man tatsächlich nicht selten an, und zwar immer dann, wenn Muskeln über die Maßen an der Haltung beteiligt werden und daher auch dann keine Ruhe finden können, wenn sie nichts bewegen müssen. Solche statischen Muskelanspannungen kennzeichnen jede Fehlhaltung im Körper und führen zur zweiten Prämisse:

Gesunde Muskeln kennzeichnet eine möglichst gute Entspannung in der Ruhe

Ruhe-EMG

Temporalis, Masseter, Trapezius und Sterno-Cleido-Mastoideus können habituell nicht mehr entspannen (links). Rechts nach Therapie durch TENS. Vollbild durch Anklicken!




Interessant sind diese Prämissen gerade in Bezug auf die CMD auch deswegen, weil die allermeisten Beschwerden, die sie verursacht, nicht von Hartgeweben ausgehen, sondern von Weichgeweben, allen voran chronisch verspannten Muskeln. Die Physiotherapie hat sich bei der CMD-Therapie vor allem deswegen als besonders effizient erwiesen, weil sie die Königsdisziplin der Muskelentspannung unter den medizinischen Therapieformen darstellt. Allerdings scheinen diese chronischen Muskelverspannungen sich nicht selten wie von Geisterhand immer wieder neu aufzubauen, ein Hinweis darauf, dass diese Muskeln nicht etwa einfach unkooperativ sind, sondern noch etwas Anderes im Hintergrund steht, was die Muskelverspannungen verursacht.


Körperhaltung

Man betrachtet die die Körperhaltung mit Respekt zu 3 Bezugsebenen, in deren Schnittpunkt das Schwerkraftzentrum liegt,

Untersuchen wir einfach Menschen der Reihe nach auf ihre Körperhaltung, so wird man sehen, dass sich jeder von ihnen etwas anders hält. Wer von ihnen macht es richtig, wer falsch? Hält sich der falsch, der auch unter Rückenschmerzen leidet, oder haben diese nichts mit seiner Haltung zu tun und kommen einfach von einer Bandscheibe, die ohne weiteren Grund vorgefallen ist, weil sie zu schwach oder vorzeitig verschlissen ist?

Vielleicht ermöglichen unsere neuen Prämissen es uns, hier zu plausiblen und logisch schlüssigen Erkenntnissen zu finden. Damit Muskeln unseren Körper möglichst leistungsfähig bewegen können, müssen sie möglichst gut entspannen können, um sich in Phasen, in denen wir uns nicht bewegen, gut von der Anstrengung erholen können, also dann, wenn wir unseren Körper einfach nur halten. Die Frage ist nun, ob sich eine Körperhaltung ableiten lässt, welche dieses Ziel am besten erreichen würde.

Wie können wir also so auf zwei Beinen stehen, dass unsere Muskeln am wenigsten halten und daher am besten loslassen und entspannen können? So, dass wir die Knochen in unserem Skelett dafür einsetzen, unseren Körper zu tragen und Muskeln daran möglichst wenig beteiligen! Das ist gegeben, wenn in der Frontalen die Knochen wie Bauklötze übereinander angeordnet sind, also die Kniegelenke genau über den Sprunggelenken stehen und genau darüber die Hüftgelenke des Beckens. Über dem Sakrum türmen sich dann 24 Wirbel in einer Linie auf, die den Schädel mittig balanciert tragen.

Auch in der Sagittalen würden Sprunggelenk, Knie- und Hüftgelenke gerade übereinander stehen, allerdings weist in dieser Ebene die Wirbelsäule einige Biegungen auf, die es ermöglichen, die Organe möglichst nahe der Körperachse zu tragen. Jedoch steht das obere Ende der HWS lotrecht über den unteren Wirbeln der LWS und der Körper balanciert sich somit auch in der Sagittalen.

Würden wir die Haltung bei einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Patienten untersuchen, so würden wir kaum einen finden, der sich wirklich in der beschriebenen Weise hält. Allerdings würden wir vermutlich ebenso kaum einen finden, der absolut keine muskulo-skelettalen Beschwerden kennt. Wir müssen daher von der Annahme ausgehen, dass es Lebenseinflüsse in unserer Bevölkerung gibt, welche verhindern, dass sich bei den meisten Menschen eine perfekte Körperhaltung entwickelt. Unsere Überlegung zur balancierten Körperhaltung kann also nur eine Richtschnur sein, mit der wir ermitteln können, wie weit sich der Einzelne von diesem Ideal entfernt hat.


Akkommodation

Eine Körperfehlhaltung eines gewissen Grades muss in unseren Breiten daher als „normal“ betrachtet werden, ebenso, wie gelegentlich auftretende Kopf- oder Rückenschmerzen vielfach auch als „normal“ gelten. Wir sprechen von Akkommodationen im muskulo-skelettalen System, wenn die Körperhaltung vom Optimum abweicht und nun dem muskulären System vermehrt Aufgaben des skelettalen Systems zufallen. Dies mag durch Lebensgewohnheiten ausgelöst werden, wie z. B. die Kopfvorhaltung beim Studenten oder Buchhalter, oder eine tiefe rechte Schulter mit Skoliose und ungleicher Lastverteilung zwischen den Beinen beim Rechtshänder aufgrund einseitiger Bewegungsmuster bei der Arbeit. Genauso gut können solche Akkommodationen aber auch durch physiologische Fehlfunktionen ausgelöst werden, wie bei der chronischen Mundatmung, die eine veränderte Zungen-, Mund- und Kopfhaltung erzwingt, oder beim Blähbauch, bei dem der Darm ein unangemessenes Volumen einnimmt, das Zwerchfell displaziert und die gesamte Körperhaltung zu Anpassungen zwingt.

Akkommodationen können auch durch Verletzungen nötig werden, nach denen eine Schonhaltung eingenommen werden muss, ein verletztes Gelenk, eine Sehne oder ein Band muskulär geschient werden muss, oder ein Muskel primär verletzt wird, wie bei einer Zerrung oder einem Trauma. Solche Akkommodationen sollten sich nach der Heilung von selbst wieder lösen, bleiben jedoch bei der Bewegungsarmut unserer Zeit und dem damit einhergehenden Durchblutungsmangel bei einer gleichzeitig häufig anzutreffenden Vorbelastung des Bewegungsapparates nur allzu oft erhalten, heilen nicht „aus“, sondern „ein“.

Die Merkmale der Akkommodation sind:

  • Übertragung statischer Arbeit von Knochen auf Muskeln
  • Chronische isometrische Muskelspannung
  • Chronische Gelenkkompression
  • Chronische Ischämie im betroffenen Gewebe
  • Lokale Gewebsazidose, vermehrte Druckdolenz


Kopfvorhaltung





Der Kopf ist mit einem Gewicht von etwa 6 kg das am weitesten entfernte Körperteil, das auf den Füßen balanciert werden muss. Die Verlagerung eines Gewichts in dieser Größenordnung kann nicht ohne Auswirkung auf die gesamte Haltungskette bleiben, denn es muss verhindert werden, dass man umkippt. Eine aufrechte, balancierende Kopfhaltung liegt vor, wenn die Augen von der Seite betrachtet über dem Manubrium stehen, dem oberen Ende des Brustbeins. Bei den meisten Menschen steht der Kopf jedoch anterior dazu verlagert, sie haben eine Kopfvorhaltung. Die Konsequenzen daraus sind:

  • Der Kopf balanciert nicht auf der HWS, sondern muss von den posterioren Nackenmuskeln gehalten werden.
  • Um die Blickrichtung trotz Kopfvorhaltung horizontal zu halten, müssen die subokzipitalen Muskeln das Kranim extendiert halten.
  • Das vorgeschobene Kopfgewicht wird durch ein vorgeschobenes Becken aufgefangen. Hyperlordosen in HWS und LWS resultieren und die kyphotische Krümmung der BWS wird akzentuiert.
  • Der Vorfuß trägt mehr Gewicht als nötig, was durch Muskelspannung stabilisiert werden muss.

Dabei soll die Wirkrichtung hier nicht festgeschrieben werden, denn eine Kopfvorhaltung kann sich ebenso aus einer veränderten Beckenhaltung entwickeln, wie anders herum. Wichtig ist mehr die Beobachtung, dass diese Akkommodationen in Abhängigkeit voneinander bestehen und daher Beschwerden an spezifischen Punkten der Haltungskette vorhersehbar sind.


Die chronische Mundatmung

Eine weitere häufig anzutreffende Kette an Akkommodationen wird durch ein organisches Problem ausgelöst. Die Atmung gehört zu den wichtigsten Stoffwechselfunktionen im Körper. Der Mensch kann recht lange ohne Nahrung auskommen, weniger lange ohne die Zufuhr von Flüssigkeit, aber nur wenige Minuten ohne die Atmung. Es verwundert daher wenig, dass die Reflexe, welche die Luftwege sicherstellen, eine besonders hohe Priorität innehalten. 

Versuche mit Rhesusaffen haben gezeigt, dass das Wachstum und die Entwicklung empfindlich beeinträchtigt wird, wenn sie experimentell durch Verlegung der Nasenluftwege zur Mundatmung gezwungen werden. Folgende Entwicklungen waren besonders augenfällig:

  • Die Lippen verloren Tonus, wurden weicher, größer und schwächer.
  • Es entwickelte sich eine längliche Gesichtsform, speziell ein langes Untergesicht mit einem steil abfallenden Unterkieferwinkel.
  • Es entwickelte sich eine Anomalie der Zahnstellung und eine Distalbisslage, zumeist anterior offen.
  • Die Infektanfälligkeit der Luftwege nahm stark zu.

In Unkenntnis dieser Zusammenhänge wird gewöhnlich angenommen, die Entwicklung und das Wachstum folgen einer genetischen Veranlagung. Studien zeigen, dass eine kieferorthopädische Behandlung gerade in solchen Fällen dem Risiko eines Rezidives unterliegt und die Zahnstellung vor allem in der Front wieder zurückfällt, wenn die Schneidezähne nicht künstlich retiniert werden.

In Wirklichkeit liegen hier jedoch keinesfalls „unüberwindbare genetische Kräfte“ vor, sondern es bleibt häufig einfach die funktionelle Ursache für die Fehlentwicklung unerkannt. Da sie dann natürlich auch nicht behandelt wird, kann sie weiterhin ungestört ihren Einfluss auf die Entwicklung nehmen, wodurch sich entsprechende röntgen-basierte Wachstumsprognosen dann auch bewahrheiten.

Die Nase scheidet normalerweise ein wässriges Sekret ab, das mit Immunkörpern durchsetzt und die erste Barriere gegenüber luftgetragenen Infektionen ist. Dieses Sekret samt ausgefilterten Teilchen wird durch die feinen Härchen der Nasenschleimhaut, in den Nasopharynx befördert, geschluckt und im sauren Milieu des Magens unschädlich gemacht. 
Ist der Nasenschleim jedoch aufgrund von Allergien dick und zäh, so haben Keime viel Zeit zur ausgiebigen Vermehrung. Gelangt dieser hoch-infektiöse Schleim schließlich in den Rachen, so trifft er auf die zweite Barriere des Immunsystems, die Lymphgewebe der Tonsillen und verursacht eine chronische Tonsillitis.

Die chronisch vergrößerten Tonsillen verdrängen die Zunge in den Mundraum. Gleichzeitig ist aber die Nase aufgrund der allergischen Reaktion verstopft und die Zunge muss ausweichen, um einen Luftweg im Mund freizuhalten. Die Zahnbögen entwickeln sich jedoch im Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Lippen und Wangen von außen und der Zunge von innen. Einerseits können nun die Lippen nicht mehr geschlossen gehalten werden und ihr Druck auf den Zahnbogen entfällt. Auf der anderen Seite drängt die Zunge vermehrt von innen und das Kräftegleichgewicht ist gestört, was vor allem zur Zeit der Zahnbogenentwicklung zum Teil extreme Auswirkungen hat. Ein organisches Problem führt hier letzten Endes zu veränderten Kräften, die auf die Zähne wirken, also zu einer Art Autokieferorthopädie. Jedoch bleiben die Effekte nicht auf die Zahnbögen beschränkt.

Der Mundatmer öffnet den Mundluftweg so ähnlich, wie es auch in der Ersten Hilfe gelehrt wird: Er rotiert den Kopf zurück. Um die Blickrichtung wieder horizontal zu stellen, muss er die untere HWS in eine Flexionsstellung bringen, also eine Kopfvorhaltung einnehmen!

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Bei dieser Kopfhaltung übertragen die suprahyoidalen Muskeln nach retral gerichtete Kräfte auf den Unterkiefer, welche während der Schädelentwicklung dessen Wachstum behindern, zu jedem anderen Zeitpunkt jedoch die Kiefergelenke nach retral komprimieren und eine Diskusverlagerung vorbereiten. Die veränderte Kopfhaltung bringt überdies eine erhöhte Anfälligkeit für Nackenschmerzen mit sich. Bilden sich myofasziale Triggerpunkte in den subokzipitalen Muskeln aus, so leidet der Patient typischerweise unter Kopfschmerzen. Schließlich werden durch die chronische Mundatmung die vielfältigen Funktionen der Nase außer Kraft gesetzt. U. a. wird die Atemluft weniger befeuchtet, der Rachen trocknet aus, die Infektanfälligkeit steigt. Der mangelnde Widerstand für den Luftstrom beim Ausatmen bewirkt gar eine weniger effiziente Sauerstoffabsorption und einen geringeren Sauerstoffpartialdruck, Kinder sind häufig schlapp, haben wenig Energie und Konzentrationsfähigkeit, neigen aber auf der anderen Seite dann wieder zu übertriebenem Toben.


Muskelschmerzen und Trigger-Punkte

Einengung von Nervendurchtritten durch verhärtete, chronisch kontrahierte Muskelareale führt zu neuralen Symptomen, wie Anästhesie, Parästhesie oder Hyperästhesie. Dr. Janet Travell beschrieb in ihrem Buch „Myofascial Pain and Dysfunction, The Trigger Point Manual“ die weichgewebliche Kompression („Entrapment“) des Plexus brachialis zwischen den Scaleneus-Muskeln des Nackens mit Parästhesien und Taubheit in den Fingern, die Kompression des N. buccinatorius in der Pterygoidmuskulatur mit Parästhesien und Schmerzen in den Wangen, die Kompression des N. occipitalis im M. splenius capitis mit Kopfschmerzen in der Stirn, usw..

In dieser Weise kann eine chronische Muskelverspannung neurogene Schmerzen unterhalten, die man nicht unbedingt als „Muskelschmerzen“ klassifizieren würde, die aber durch Muskeltherapie behandelbar sind. Natürlich sind aber auch Muskeln selbst mögliche Schmerzquellen, wie jeder vom Muskelkater her weiß. Hierzu existieren unterschiedliche Erklärungsmodelle, von Mikrorissen bis zur chronischen Ischämie, aber letzten Endes steht hier das klinische Interesse vor dem akademischen. 

Statische Kontraktionen erlauben dem Muskel kaum Bewegung, wodurch auch die Anregung der Mikrozirkulation in Blut- und Lymphgefäßen durch die Bewegung entfällt und es zum Sauerstoff- und Nährstoffmangel kommen kann, und damit zum Überschuss an sauren Endmetaboliten im Gewebe, welche freie Nervenendungen sensibilisieren. Diese Muskelareale zeichnen sich daher meist durch eine erhöhte Druckdolenz aus. Zusätzliche Reize durch Zugluft, Kälte oder Erhöhung der muskulären Spannung aufgrund von physischem oder psychischem Stress können dann zu akuten Schmerzschüben führen, die typisch eher als tiefe, ziehende oder dumpfe Schmerzen wahrgenommen werden.

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Typische Übertragungsmuster von Schmerzen und Missempfindungen von Triggerpunkten im M. sterno-cleido-mastoideus

Myofasziale Triggerpunkte sind meist klein umschriebene Areale im Weichgewebe, vorrangig in Muskeln, welche Schmerzen und manchmal auch messbare muskuläre Kontraktionen übertragen, sodass diese meist außerhalb des Muskels vom Patienten wahrgenommen werden, manchmal gar in einem anderen Körperteil. So können Triggerpunkte im M. trapezius superior Schmerzen im Hinterkopf oder in den Schläfen auslösen, Trigger-Punkte im M. sternocleidomastoideus Schmerzen in Hinterkopf und Stirn, aber auch migräneartige Schmerzen in Schläfen und um das Auge, und Trigger-Punkte im M. masseter und M. temporalis gar Zahnschmerzen. Dabei unterscheidet man zwischen latenten Trigger-Punkten, die eher zu Steifheit und Bewegungseinschränkung führen, und aktiven Trigger-Punkten, die Schmerzen übertragen. Ein aktivierender Stimulus kann Kälte oder Zugluft sein, aber ebenso Druck, Trauma, Überlastung oder Ermüdung, wahrscheinlich auch Übersäuerung und Stress. Diese Triggerpunkte, wenn sie gefunden werden, reagieren meist gut auf eine entsprechende Manualtherapie.


Akkommodation der Unterkieferhaltung

Das Kausystem ist der einzige Teil des Bewegungsapparates, dessen Bewegung in einem definitiven, präzisen Hartgewebekontakt mündet: der Okklusion der Zähne. Die Muskulatur muss daher immer die notwendige Anstrengung unternehmen, um Unterkiefer, Kiefergelenk und Zähne an exakt diesen Punkt mit hoher Präzision zu bewegen. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass der Unterkiefer und dessen Bewegung auch von Muskelzügen der Hyoidmuskulatur beeinflusst wird, dem zufolge also auch die Kopfhaltung Einfluss auf die notwendige Muskelarbeit zum Erreichen der Okklusion hat. Dies braucht nicht erst „wissenschaftlich“ nachgewiesen werden, jedermann kann dies sofort am eigenen Körper nachvollziehen: Steht oder sitzt man aufrecht und tappt spielerisch und kraftfrei mit den Zähnen zusammen, so wird man merken, dass die ersten leichten Zahnkontakte wandern, wenn man den Kopf vor, zurück oder zur Seite neigt, oder verdreht. Hierdurch wird klar, dass die Unterkieferstellung von der Kopfhaltung beeinflusst wird. Da die zahngegebene Okklusion aber einen Fixpunkt bildet, ist die zur Auffindung nötige Muskelarbeit deutlich von der Kopfhaltung beeinflusst.

Bei vorübergehenden Bewegungen ist dies zum Glück kein Problem: Wir können beim Essen selbstverständlich den Kopf bewegen und dies mit unseren Kieferbewegungen kompensieren, sodass wir deswegen nicht falsch auf unsere Zähne aufkommen. Jedoch kann es vorkommen, dass die Interkuspidation der Okklusalflächen im Biss bei einer bestimmten Kopfhaltung am besten passt, sodass diese Kopfhaltung dann auch bevorzugt eingenommen wird. Die Frage ist nun, ob diese Kopfhaltung die Nackenmuskeln anstrengt, oder nicht! Wichtig ist auch, dass es bei solchen Kompensationen im Körper meist keine Einbahnstraßen gibt. Ebenso wie sich die Kopfhaltung auf die Unterkieferhaltung auswirkt, kann sich die Unterkieferhaltung, die ja auch von dem okklusalen Fixpunkt abhängig ist, auf die Kopfhaltung auswirken. Richtet der Zahnarzt also - aus welchen Gründen auch immer - bei seinem Patienten eine Okklusalposition ein, die bei vorgehaltenem und rückrotiertem Kopf leichter zu erreichen ist, z. B. indem rückwärtige und superiore Grenzstellungen der Gelenkkondylen angestrebt werden, so stehen die Chancen gut, dass der Bewegungsapparat des Patienten in diese akkommodative Stellung verfallen wird. Typische Auswirkungen sind dann, wenn oft auch erst nach Jahren, chronische Nackenschmerzen.

Wiederholt man nun das Spiel mit dem leichten Zähnetappen und ändert dabei nicht die Kopf-, sondern die Körperhaltung (z. B. im Stehen unter einen Fuß ein Buch unterlegen), so merkt man schnell, dass in Wirklichkeit die gesamte Körperhaltung die Bewegung des Unterkiefers beeinflusst, umgekehrt also die Kieferstellung auch auf die gesamte Körperhaltung Einfluss haben kann, ein Bild, das wir bei chronischen cranio-mandibulären Dysfunktions- und Schmerzpatienten nur allzu häufig sehen.

Jedoch ist das Kausystem auch lokal erstaunlich anpassungsfähig. Die komplexe Anordnung der einzelnen Kaumuskeln und die komplizierte Form der Kiefergelenke, die sich im Wechselspiel mit der Zahnbogenform herausbildet, wird erst in dem Moment verständlich, in dem man eine Funktion des Kausystems ins Auge fasst, die generell übersehen wird: Maximale Anpassungsfähigkeit für den Fall von Zahnabrieb, Zahnverlust und Verletzung verfügbar halten. Mit einer festen Scharnierachse wäre dies nicht möglich und die Kaufunktion würde mit jeder Veränderung in den Zahnbögen sofort ernsthaft kompromittiert. Wenn man in einem derartigen selbstregulierenden System arbeitet, ohne dessen gewärtig zu sein, dass es selbstständig auf jede Veränderung reagiert, werden Fehler leicht übersehen, die individuell oder auch systematisch gemacht werden, weil das Kausystem auch diese ausgleicht! Entsprechend unverständlich erscheint es dann, wenn dies einmal nicht funktioniert und ein Patient mit einer Maßnahme, die an Dutzenden von anderen Patienten problemlos toleriert wurde, plötzlich überhaupt nicht zurechtkommt.

Das Ziel des Cranio-Mandibulären Orthopäden ist es daher, die okklusale Position so einzustellen, dass sie weder lokale noch entfernte Kompensationen nötig macht. Bei einer möglichst aufrechten, aber ungezwungenen Körperhaltung soll der Unterkiefer, aus einer möglichst entspannten Ruhe-Schwebe kommend, ohne Ausweichbewegungen in seine interkuspidale Position gelangen können. Es soll durch die Bisslage also möglichst keine Akkommodationen unterhalten werden, die beteiligten Muskeln sollen in der Ruhe gut entspannen können und in der Funktion gute Kraftreserven aufweisen.

In der Myozentrik wird eine solche Bissposition identifiziert, indem die beteiligte Muskulatur entspannt wird, z. B. mithilfe von TENS, oft auch nach der Vorbereitung durch einen Manualtherapeuten, während die Einnahme der Interkuspidation durch ein Medium verhindert wird, am besten ein Bisskissen. Häufig wird dieser Biss zunächst mit einer Bissorthese eingestellt, die eine neue Okklusalform beinhaltet und abnehmbar auf den Zähnen des Patienten sitzt. Aufgrund des zumeist bestehenden Wechselspiels zwischen Unterkieferhaltung und Körperhaltung ist meist die Zusammenarbeit mit einem Manualtherapeuten sinnvoll, der an der Körperhaltung des Patienten arbeitet, während der Zahnarzt im Wechselspiel die Okklusalposition optimiert.


Zusammenfassung

Chronische muskulo-skelettale Dysfunktionen bleiben in der Schmerzdiagnostik häufig unerkannt. Soll sich hier eine fachübergreifende Zusammenarbeit entwickeln, so ist die Inkorporation von physiologischen Konzepten in der Zahnmedizin unverzichtbar, die Weichgewebefunktion und ganzkörperliche Zusammenhänge berücksichtigen.

Aufgrund der allzu häufig anzutreffenden Verquickung von Haltungsstörungen und cranio-mandibulären Dysfunktionen ist es sinnvoll, wenn nicht länger auf die Grenzbewegungen von Kiefergelenken fokussiert wird, sondern bei der Diagnose und Therapie der gesamte Patient Beachtung findet, wobei die Zusammenarbeit mit einem entsprechend ausgebildeten Manualtherapeuten häufig von großem Vorteil ist. Trotz der weiten Verbreitung solcher Leiden gestaltet sich die Therapie in aller Regel vergleichsweise unkompliziert und nebenwirkungsfrei.

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